Aus meiner Beratungspraxis IX

Wenn das Kind in Dir weint

Geschäftsmann schaut in die Ferne und sehnt sich nach seiner Berufung

Bei welchen Dingen würde das kleine Kind in Dir weinen, wenn es sehen würde, was Du heute

machst? Ein Blick in die Lebens- und Laufbahnberatung zeigt: Zu viele Menschen unterdrücken ihre

Einzigartigkeit und ihren inneren Ruf, zwängen sich in ein Jobprofil hinein und verharren in

unpassenden privaten oder öffentlichen Rollen. Die Folge davon: Unzufriedenheit. Mancher ist

deshalb so unglücklich, so leidvoll geplagt, weil er nicht sein Leben lebt und sich und seinen Wünschen

nicht treu blieb.

 

Der Zustand eines Menschen, der seine Berufung nicht gefunden hat, erinnert an ein Atom eines

radioaktiven Isotops: Es bleibt stabil und wenn es zerfällt, zerfällt es unvoraussehbar plötzlich. Der

Zerfall mag sehr bald, irgendwann oder auch niemals geschehen. Wer sich gegen seine Berufung

stellt, wird früher, später oder gar nicht erkranken oder zumindest eine Sinnkrise erleiden. Da die Schutzmechanismen individuell sind, variieren die Zeit- und Verlaufskriterien stark: physische und psychische Erschöpfung, Entmutigung, verminderte Arbeitsleistung, Somatisierung,

Absenzen am Arbeitsplatz, sozialer Rückzug. 

Die Arbeitswelt im Wandel

Die steigende Unzufriedenheit am Arbeitsplatz wird in letzter Zeit öfter dem Umstand zugeschrieben,

dass sich unsere Arbeitswelt rasant verändere und die jüngeren Mitarbeitenden resp. Vorgesetzten

andere Ansichten und Werte hätten, was uns immer wieder vor neue Herausforderungen stelle.

Übergänge gehören aber nicht nur zum Leben, sie definieren es auch. Insbesondere fordern sie uns

eine Wandlungsfähigkeit ab, die in jedem Menschen gegenwärtig ist und sein Überleben sichert. Wie

man damit umgeht und ob eine Veränderung positiv genutzt wird, um erfolgreich zu werden, ist

Aufgabe jedes Einzelnen. Neue Berufsbilder entstehen und ohne eine stetige Weiterbildung ist man

im Berufsalltag schnell im Abseits. Der Begriff «Change Management» hat sich in den letzten Jahren

für die gezielte Durchführung von Veränderungen etabliert, und Bildungsexperten fordern ein

permanentes «Upskilling», damit wir mit den äusseren Anforderungen Schritt halten können. Und

doch sollten wir offen bleiben für das, was auch noch in unserem tiefsten Innern angelegt und

gedacht sein könnte. Wie kann dieser Balanceakt gelingen? 

Karrieremodelle

Angloamerikanische Psychologen unterscheiden zwischen Job, Career und Calling. Während der Job

einzig der Existenzsicherung dient, strebt Career nach Zuwachs an Einfluss, Image und Verdienst. Wer

hingegen einem Calling, also einer Berufung folgt, interessiert sich weniger für Geld und Status,

sondern für die Erfüllung, die ihm seine Tätigkeit bringt. Und damit wird die Arbeit Teil seiner

Identität. Wer das Gefühl hat, in der Arbeit seine Talente entfalten und Ideale verfolgen zu können,

hat seine Berufung gefunden. An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die jüngste Generation, die neue Ansprüche an ihre künftigen Jobs hat. Sind Live-Streaming, Open-Source und Cloud für die meisten bloss technische Begriffe, sind sie für die jüngste Generation Ausdruck ihrer Denkweise. Gleichzeitig gewinnen in dieser «Generation Z», der Generation der unter 20-Jährigen, neue bzw. wiederentdeckte Themen wie Lebensqualität und Gesundheit an Bedeutung. Im Gegensatz zur «Generation Y» findet die Vermischung von Beruf und Privatleben kaum noch Anklang, und soziale Werte stehen wieder vermehrt im Vordergrund. Es stimmt, dass man den Menschen nur verstehen kann, wenn man ihn in seinen sozialen Beziehungen betrachtet. Auch seine Arbeitstätigkeit ist abhängig vom Gelingen der sozialen Beziehungen.

Was im Leben wirklich zählt

Karriere, Geld oder die ewige Liebe? Jeder definiert seine Lebensziele anders, alle aber haben eines

vor Augen: glücklich zu sein. Manche arbeiten konsequent an ihrer Karriere oder daran, ihren Besitz

zu vermehren. Andere folgen ihrer sozialen Ader und stellen sich in den Dienst der Gesellschaft.

Einige finden erst später heraus, was für sie im Leben zählt. Besonders dann, wenn das Schicksal

zuschlägt, bekommt die Frage nach den Lebenszielen meist eine ganz andere Ausrichtung. Wenn

Krankheit oder Unfall unser Leben erschweren, enge Freunde oder Angehörige uns verlassen oder

die eigene Existenz auf dem Spiel steht, drängt sich plötzlich eine ganz neue Antwort auf die Frage

auf, was im Leben wirklich zählt. Jeremy Rifkin schreibt: «Wenn alte Leute auf ihr Leben

zurückblicken, wenn das Rattenrennen vorbei ist, geht es ihnen selten darum, wann sie ein neues

Haus gekauft oder einen neuen Deal im Büro eingefädelt haben. In ihrer Erinnerung eingebrannt

haben sich jene Momente, als sie sich anderen Menschen eng verbunden fühlten, als sie anderen

nahe kamen. Spätestens auf dem Totenbett merkt man, dass dies die wichtigsten Momente im Leben

sind, auch weil sie grösser sind als wir selber.» Bedeutende Momente stellen sich dann ein, wenn wir

uns selber vergessen und in den Dienst der anderen stellen.

Wie erfahre ich meine Berufung?

Berufung kann als das Vernehmen einer inneren Stimme interpretiert werden, die uns zu einer bestimmten Lebensaufgabe drängt. «Jede Gabe ist eine Aufgabe», schrieb Alfred Adler. Dabei geht um Deine ganz persönliche Mission: Warum bist Du hier, welche Aufgaben warten auf Dich, und vor welche Herausforderungen bist Du gestellt?

Wie er davon gewusst hätte, formulierte es Martin Luther King in seiner Rede Facing The Challenge

of A New Age von 1957: «Wenn es Dir im Leben zufällt, Strassen zu kehren, dann kehre die Strassen,

wie Michelangelo Bilder malte. Kehre die Strassen wie Beethoven Musik komponierte. Kehre die

Strassen wie Shakespeare dichtete. Kehre die Strassen so gut, dass alle Heerscharen im Himmel und

auf Erden innehalten müssen und sagen: «Hier lebte ein großer Strassenkehrer, der seine Aufgabe

gut gemacht hat.»

Viele Menschen tun sich aber schwer, ihre Berufung zu entdecken. Neben einer «allgemeinen Grundberufung», die aus dem biblischen Gesamtzeugnis ersichtlich ist und für alle Menschen gilt, gibt es individuelle Formen. Meine persönliche Berufung ist nicht etwas, der ich irgendwann plötzlich begegne, sondern ein Prozess, ein Weg mit vielen Stationen. Um sie zu finden, erforsche ich, was mich jetzt in meinem Leben ruft und welche Stimme in mir spricht. Es ist ein emotionaler Prozess, der Vertrauen und Geduld erfordert. Die richtige Einstellung bei der «Suche» ist entscheidend. Wer verkrampft danach sucht und es zur Bedingung macht, glücklich zu sein, wird lange nach ihr suchen. Berufung stellt sich somit nicht in erster Linie über Nacht, auf einer einsamen Insel oder in einem Timeout ein. Ich erfahre sie vielmehr im Unterwegs- und Tätigsein durch Zeichen: im Buch, das mir in die Hände fällt; im Spruch, der mich ins Herz trifft; in einer nachhaltigen Begegnung, in einem Naturerlebnis, in einem überraschenden Angebot. Die Erfüllung der Lebensaufgabe verspricht uns ein sinnvoll gelebtes Leben. Sie entzündet das innere Feuer und ermächtigt uns, im Einklang mit unserer Seele zu leben.

Als Berufs- und Laufbahnberater weiss ich, dass die Vielfalt an individuellen, institutionellen und

sozioökonomischen Bestimmungsfaktoren einen Arbeits- und Berufsfindungsprozess erfordert.

Die Berufswahl nicht kein einmaliges Ergebnis, sondern eine längerfristige Interessenentwicklung im Sinne des Lebensstils. Das zeigt sich auch daran, dass sich immer mehr Ratsuchende in der Lebensmitte Beratungsangebote in Anspruch nehmen um neue Perspektiven und Möglichkeiten zu entdecken. 

Fazit

Lebe deine Kraft, Bestimmung und Passion! Ich kann Dich nur ermutigen, Deinen eigenen Weg, den Herzensweg zu gehen. Dazu ist es nie zu spät!


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Kommentare: 1
  • #1

    Christian Tandler (Freitag, 23 Oktober 2020 09:25)

    Gratuliere lieber Markus zu Deinem 1. Blog.
    Er ist sehr gelungen und interessant.